Knappe Bauzeit, internationale Partner, zwei Kontinente und ein neuer Werkstoff. Ein neues Gas-Kombikraftwerk in der Türkei soll binnen 17 Monaten eine kleinere Großstadt versorgen; die Rahmenbedingungen für den Bau sind allerdings sportlich. Ein mittelständischer Rohrhersteller aus dem Rheinland erhält den Zuschlag für Engineering, Planung und Bauleitung der Kühl- und Prozessleitungen. Eine Geschichte von modernem Kraftwerksbau in globalisierten Zeiten, aus dem auch die deutsche Energiewirtschaft Learnings ziehen kann.
Als im Januar 2008 die österreichische A-Tec Power Plant Systems den Rohrhersteller Fiberpipe GmbH mit dem Rohrleitungsbau für ein Gas-Kombikraftwerk mit Nieder- druck-Dampfturbinen und 920 Megawatt Leistung beauftragt, ist die Zeit bereits eng. In drei Monaten ist Baubeginn. Den Auftrag hat das Unternehmen jedoch nicht ohne Grund erhalten: Edelstahl hat in dem Zeit- und Kostenplan von vornherein keine Chance und die Fiberpipe GmbH liefert die Haupt- und Nebenkühlwasserleitungen DN 25 – 2400 aus glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK). Dieser Werkstoff ist im Großanlagenbau und der Energiewirtschaft auf dem Vormarsch, denn der Werkstoff ist unempfindlich gegenüber Meerwasser, Hitze, Chemie- und Kräfteeinwirkung. Geringes Gewicht und vorteilhafte Verarbeitungseigenschaften ermöglichen besonders schnelle Montageabläufe, die Preis- vorteile mit sich bringen. Im Kraftwerksbau ist das Mittelstandsunternehmen zudem erfahren: Die Ingenieure aus Stolberg haben bereits Großanlagen wie das Steinkohlekraftwerk RWE Ibbenbüren, die Müllverbrennung Enertec Hameln und Anlagen des Kühlturmspezialisten Hamon Thermal Germany umgebaut, ausgestattet oder saniert. Sie bringen Kompetenz mit, um Planungssicherheit zu garantieren, und liefern das gesamte Projekt nach hohen deutschen Standards von der Planung bis zur Montage aus einer Hand.
Die 210.000-Einwohner-Stadt Bandirma an der Küste des Marmarameeres soll eine neue Energieversorgung erhalten. Dabei geht es nicht um eine Erweiterung einer bereits vor- handenen Infrastruktur, sondern vielmehr um einen kompletten Kraftwerksneubau – auf der grünen Wiese, direkt an der Küste. Bei dem zu errichtenden Elektrizitätswerk handelt es sich um ein Combined Cycle Power Plant (CCPP) Gas-Kombikraftwerk. Die Anforderungen an die Leitungssysteme von Gas-Kombikraftwerken sind extrem: Die Rohre müssen unempfindlich gegen das Wasser des Marmarameeres und korrosionsbeständig gegenüber entstehenden Wasserdämpfen sein sowie extreme Druckschwankungen und Temperaturverhältnisse aushalten. Fiberglasrohre lassen sich auf diese speziellen Eigen- schaften hin auslegen. „Ein Fiberglasrohr ‚von der Stange’ gibt es nicht“, erläutert Alexander Bamberger, Inhaber und Geschäftsführer des Fiberglas-Rohrspezialisten Fiberpipe GmbH, „jedes Rohr in dieser Größenordnung wird auf seine individuelle Anforderung hin angefertigt.“
Die Produktion von Rohren für die Kühlwasserkreisläufe beginnt im Januar 2009 direkt mit der Planung. Die Ingenieure haben die technische Beratung bereits in der Angebots- phase übernommen. Sie führen Stressanalysen im Computer durch, berechnen Strömungen, erstellen Halterungskonzepte, fertigen 3D-Zeichungen an – und übernehmen die Baustellen- aufsicht in Bandirma. Vor Ort ist ein türkisches Montageteam aus 40 Leuten zu steuern, die klimatischen Bedingungen sind hart. Ein klimatisierter Baustellencontainer dient als Büro und Rückzugsraum. Die deutschen Ingenieure schulen das türkische Team in der Verarbeitung und der Montage von Fiberglaswerkstücken. GFK lässt sich schnell und einfach mittels Ver- kleben, Laminieren, Stecken und Flanschen verbinden. Ein schulungserfahrenes Technikteam aus Deutschland führt die lokalen Arbeiter ein und stellt sicher, dass alle Verbindungen hoch- sicheren Standards entsprechen. Verfahrensprüfungen und Druckversuche sichern im Verlauf das gesamte System ab.
Beim Combined Cycle Power Plant Gas- und Dampf-Kombikraftwerk werden die heißen Abgase der Gasturbinen in einem Abhitzedampfkessel zur Erzeugung von Wasserdampf verwendet. Der Dampf wird anschließend über einen herkömmlichen Dampfturbinenprozess entspannt. Zwei Drittel der elektrischen Leistung entfallen dabei auf die Gasturbine, ein Drittel auf den Dampfprozess. Der Abdampf der Turbine wird anschließend im Kondensator gekühlt. Aus der Kombination der Turbinenarten ergeben sich sehr hohe Kraftwerks-Wirkungs- grade. Während auf der Baustelle gearbeitet wird, ist die Planung der Gesamtanlage en detail noch nicht erfolgt – sie bleibt ein langer kontinuierlicher Prozess. Fiberpipe erstellt Kons- truktionszeichnungen von getesteten Rohrverläufen und sendet diese online an den Kunden. Dieser fügt die Rohrplanung in das Gesamt-3D-Modell der Anlage ein und sendet die aktualisierten Datensätze wiederum an Fiberpipe in Deutschland zurück. So bewegen sich die deutschen Ingenieure virtuell im gesamten Kraftwerk, analysieren alle fremden Kompo- nenten sowie die eigenen Rohrleitungen in 3D, identifizieren Halterungsmöglichkeiten in der Anlage und planen weitere Rohrverläufe. Im Laufe der Bauphase entsteht eine Zeichnung mit über 18.000 Einzelteilen nur für die Kühlwasserleitungen.
Im engen Zeitplan ist die schnelle Lieferung aller Rohre und Teile essenziell. Das beauftragte Rohrvertriebsunternehmen ist Teil einer internationalen Gruppe, die auf allen Kontinenten fertigt und zügig liefert. Umfangreich bestückte Lager ermöglichen kürzeste Lieferzeiten aller gängigen Rohrklassen in Deutschland oder weltweit, alle Rohre sind immer voll kompatibel nach ISO-Abmessungen. Dank der Ausschöpfung dieser intelligenten Globalisierung ist Fiberpipe üblichen Lieferwegen einen Schritt voraus. Die GFK-Rohre für das Kraftwerk in Bandirma werden im italienischen Povoletto, einem Partner der Fiberpipe-Gruppe, gefertigt, was die Transportwege erheblich verkürzt und die Kosten senkt. Die Logistik erfolgt auf dem Seewege, die teilweise 14 Meter langen Rohre mit Nennweiten von bis zu 2400 Millimeter und bis zu 3,5 Meter Höhe landen über Fähren in Istanbul und werden auf LKW oder Sondertransportern nach Bandirma gefahren. Die leichtgewichtigen Fiberglasrohre sind einfach im Handling. Wo Edelstahl nicht selten durchgängig mit Geräten bewegt werden muss, lassen sich Fiberglas-Rohre oft sogar tragen. Das ist besonders bei der Montage von Vorteil.
Bei der Errichtung des Kraftwerks profitieren die Ingenieure von Fiberpipe von ihren Erfahrungen im Bau von Kühlwasserleitungen für Kraftwerke. Dennoch stellt das Projekt in Bandirma, die Abstimmung vor Ort und die projektbegleitende Planung sie vor besondere Herausforderungen.
Hinzu kommen extreme klimatische Bedingungen: Im Sommer herrschen über 40 Grad Celsius im Schatten, im Winter liegt Schnee. Das Gas-Kombikraftwerk wird dennoch innerhalb des Zeit- plans fertig gestellt. Es ist seit Dezember 2010 am Netz und versorgt Bandirma mit Strom.